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Title
Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt (aus dem Englischen von Friedrich Griese)


Author(s)
Sen, Amartya
Published
München 2007: C.H. Beck Verlag
Extent
208 S.
Price
€ 19,90
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Wolfgang G. Schwanitz, Burlington County College, New Jersey

Identity and Violence, so der Originaltitel von Amartya Sens Buch, sind Schlagworte unserer Zeit. Dieser Band ging aus sechs Vorlesungen hervor, die der Autor kurz nach dem Millennium in Boston über Identität gehalten hat. Sein Werk weist keine für den Leser gut erkennbare innere Logik auf. Stichpunkte in den Kapitelüberschriften lauten Gewalt, Identität, Kultur, Religionszugehörigkeit und muslimische Geschichte, Westen und Antiwesten, Globalisierung, Multikulturalismus und Freiheit. Die erste Buchhälfte hat viele Bandwurmsätze nebst einer überaus lässlichen Aufzählung, wo der Autor schon einmal aufgetreten ist. Die zweite Hälfte wirkt konzentrierter und liest sich besser. Hier offenbart Sen auch seinen ursprünglichen Schock. Er erhielt ihn als elfjähriger Junge als er zufällig bei einem der vielen blutigen Konflikte zwischen Hindus und Muslimen Augenzeuge wurde, wie der muslimische Tagelöhner Kader Mia auf dem Weg zur Arbeit erstochen worden war.

Der in Indien geborene und in Harvard lehrende Autor sieht Identität als Quelle von Reichtum und Freundlichkeit wie auch von Gewalt und Terror an. Seine Kernthese lautet: Menschen haben nicht nur eine Identität. Alles andere sei imaginierte Singularität nach Samuel Huntington. Sen sagt dazu auch singuläre Zugehörigkeit, solitärische Illusion und Einteilung der Welt nach nur einem Kriterium, Kultur und Religion. Diese Identitätsfalle ist für ihn die Optik fanatischer Singularität. Religion könne nicht allumfassend Identität bestimmen. Dieser Ansatz ist fehlerhaft, da er nicht Besonderheiten der verschiedenen Religionen gerecht wird, die in weiten Teilen der Welt eine Hauptrolle in der Identität spielen.

Wer würde in der Ära der globalen Migration mit Bindestrich-Identitäten noch darauf verfallen, Menschen allein eine Identität zuzueignen? Die Forschung ist doch viel weiter fortgeschritten, der Begriff der multiplen Identität ist etabliert. Sen rennt daher offene Türen ein, speziell zu Mittelost und zum Islam. Nirgends definiert er Identität genügend. Ihm ist die Zugehörigkeit zu Gruppen durch Geburt, Vereinigung und Bündnis wichtig. Zwar schreibt er von Identitätselementen wie Nationalität, Sprache, Literatur, Religion, Ethnizität, Kulturgeschichte und akademische Neigungen, doch bleibt sein Begriff vage. Er fragt sich, ob wir zwischen alternativen Identitäten und Identitätskombinationen frei Prioritäten setzen können.

Um dies zu beantworten, haben andere zwischen primären und sekundären Identitäten unterschieden. Erstere, so zum Beispiel Bernard Lewis in The Multiple Identities of The Middle East (Weidenfeld & Nicolson, London 1998), sei durch Geburt mit Elementen Verwandtschaft (Familie, Clan, Stamm, Ethnizität und Nation), Ort und Religion, letztere durch erworbene Zugehörigkeiten geprägt. Unfreiwillige Identität folgt der Geburt, obligatorische der Staatszugehörigkeit. Daraus kann man ein Fazit ziehen: Alle Kulturen haben gleiche Identitätskomponenten, allein deren Gewichtung ist kulturell und zeitlich verschieden.

In diesem Sinne hat jeder Mensch zunächst erst einmal eine primäre und sekundäre Identität, in der diese oder jene Komponenten zu Zeiten und Fragen überwiegen können. Identität ist mit ihren mobilen Komponenten an sich schon ein bewegliches Konzept. Man sollte auch eine emotionelle Identität unterscheiden, die sich dadurch auszeichnet, dass zu gewissen Zeitpunkten oder Problemen die sonst gültigen formellen Komponenten verdrängt werden und scheinbar nebensächlichere Komponenten plötzlich in das Zentrum rücken.

In Mittelost ist dies öfter der Fall, wenn eine übergreifende emotionelle Identität in der steten Auseinandersetzung mit vermeintlichen oder reellen Gegnern in Israel und in den westlichen Demokratien sonst zerstrittene Ethnien eben nur zu diesem Punkt vereint und ein Zusammengehörigkeitsgefühl erzeugt, das der Philosoph Ibn Khaldun mit Blick auf das gemeinschaftliche Empfinden und Handeln verschiedener Stämme einmal asabiyya genannt hat. Dies berührt verschiedene Niveaus der Selbst- und Fremdwahrnehmung, in denen diverse Stufen von populistischen bis hin zu akademischen Ebenen zu beachten wären.

Es kann Kombinationen an Identitäten geben. Dies vor allem dann, wenn Staaten mit neuen Grenzen entstehen oder wenn Menschen Abschnitte ihres Lebens in verschiedenen Erdregionen verbringen oder eine weitere Staatsangehörigkeit annehmen. Nirgends wird dies deutlicher als in den klassischen Einwanderungsländern. Hier ist Sen wiederum sehr unscharf vorgegangen. Er hat nicht hinreichend die Literatur beachtet, nicht zwischen der primären und sekundären, äußeren und inneren sowie solitären und multiplen Identität unterschieden.

Damit bleibt auch nicht viel übrig für die postulierte identifikatorische Wahlfreiheit. Diese ist, wenn man mit den eben genannten Kategorien arbeitet, äußerst beschränkt. Sie hängt zudem vom Status ab. Wer die Mittel hat, mag Wohnsitze auf drei Kontinenten und eine multiple Identität haben. Sen will nicht plurale Identitäten der Muslime nur auf den Islam begrenzen. Bei vielen Aussagen zum Islam zeigt sich, dass er diese Religion und ihren Totalitätsanspruch nicht wirklich gut kennt. Ihm zufolge sollte man im Irak auch Klasse und Geschlecht bei der Identität beachten. Das ist sehr fragwürdig. Denn im Zweistromland stehen der Islam, Stamm und Clan über der Nation und Kriterien wie Klasse und Geschlecht.

Langfristig kann es eine religiöse dominierte Identität geben, wo eben die Religion – die Quintessenz jeder Kultur – direkt vorherrscht. Dies ist typisch für islamische Räume. Gewiss, Sen möchte gern die Welt besänftigen und "jede konfrontative Deutung des Islams vermeiden", da andere sonst leichter Terroristen für sich gewinnen könnten, "so genannte islamische Terroristen", wie er es ausdrückt. Wegschauen hat aber noch kein Problem gelöst.

Zu den nicht minder fragwürdigen Thesen Sens zählen seine Ausführungen zum Kalten Krieg und über den Westen. So meint er, der Kalte Krieg sei im Wesentlichen auf afrikanischem Boden ausgetragen worden. Das ist falsch, denn dort schwiegen nicht die Waffen wie in Europa, dort gab es in jener Ära wie auch in Asien eine verheerende Kette heißer Kriege, so genannter Stellvertreter-Kriege. Es war schon immer fragwürdig, den eurozentrierten Begriff "Kalter Krieg" für beide Kontinente zu nutzen. Sen sagt ferner, die beiden damaligen Weltmächte trügen die schreckliche Verantwortung dafür, in jener Zeit die Demokratie in Afrika untergraben zu haben. Wo gab es dort Demokratie? Sie war, wenn überhaupt, allenfalls in frühen Ansätzen vorhanden. Freilich tragen die Weltmächte einen Teil der Verantwortung für den enormen modernistischen Scherbenhaufen, der dort im Tauziehen um Einfluss entstanden war. Der andere Teil kommt den lokalen Eliten zu, die davon profitiert haben.

Sens Gedanken zum pluralen Monokulturalismus hingegen sind interessant. Er sieht darin einen religiösen Separatismus. Eine Nation dürfe nicht als eine Ansammlung von abgeschotteten Segmenten definiert werden, gar als imaginäre nationale Föderation von religiösen Ethnizitäten. Gegenüber dem Multikulturalismus dürfe nicht den Geboten einer traditionellen Kultur automatisch vor allem anderen Vorrang gegeben werden. Sonst würde eine plural-monokulturelle Gesellschaft entstehen, die die freiheitliche Wahl stark einschränkt. Es liegt auf der Hand, wie wichtig diese Einsichten auch für die Integration in Europa sind.

Doch alles in allem verfangen in einer Definitionsfalle, hat Sen Thesen Huntingtons zur Auseinandersetzung zwischen Kulturen nicht überzeugend widerlegen können. Seine Hauptfrage, warum es vielleicht keinen Krieg der Kulturen gibt, harrt noch ihrer Antwort. Allenfalls hat er uns daran erinnert, dass es über Religion und Kultur hinaus noch weitere Komponenten für die Bestimmung von Identitäten gibt. Freilich sind die in Mittelost und in anderen islamischen Räumen auf absehbare Zeit nicht aktuell. Dort ist das Verhältnis zwischen Kulturen und Zivilisationen besonders festgelegt, ein Punkt der völlig offen geblieben ist.

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Published on
01.06.2007
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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